Weltraumfetzen und ähnlicher Blödsinn
Für ihre Übersetzung aus Melissa Fergusons Meet Me in the Margins zieht Alexandra Rak DeepL als allererstes Wörterbuch zurate. Sie findet Brauchbares wie Unbrauchbares, möchte auf ihre bewährten Tools jedoch nicht verzichten.
Unübersichtlich und weniger vielfältig
DeepL hatte ich bei meinen Übersetzungen bisher immer neben anderen Wörterbüchern im Hintergrund geöffnet. Bei dieser Versuchsanordnung sollte ich nun DeepL als erstes Wörterbuch verwenden. Gut, dachte ich zu Anfang, ist ja eigentlich auch egal. War es dann aber nicht. Ich weiß durch meine Berufserfahrung als Übersetzerin inzwischen grob, wo sich welche Begriffe gut finden lassen. Flora und Fauna beispielsweise bei dict.cc, ungewöhnlichere Begriffe, für die ich eine klassischere Bedeutung suche, bei Langenscheidt etc. So bin ich also nun den Umweg über DeepL als Startpunkt gegangen, und das Ergebnis war gemischt. Manche Suchergebnisse passten hervorragend, andere nicht (siehe Dokumentation), was DeepL jetzt erst einmal gar nicht so sehr von anderen Wörterbüchern unterscheidet. Mein Workflow wurde durch den Umweg etwas verlangsamt, hat sich von dem oben genannten Punkt abgesehen aber nicht von meiner üblichen Vorgehensweise unterschieden und bedeutete insofern für mich nur eine marginale Umstellung.
Klassisch geschult gefällt mir an Wörterbüchern allerdings, dass ich gleich gezielt zu der Wortgruppe springen kann, die ich suche, also Substantiv, Verb, Adjektiv etc. Die Möglichkeit ist bei DeepL zwar unter dem Ergebnisfeld angeschlossen, aber der Blick wird ja nun erst einmal auf das eine, von DeepL vorgeschlagene Ergebnis gelenkt, und die an und für sich hilfreiche Synonymsuche des angebotenen deutschen Wortes geht dann querbeet munter durch alle Wortgruppen. Das gestaltet sich eher unübersichtlich. Habe ich mich für ein deutsches Wort entschieden, sind die dort angebotenen Synonyme dann auch nicht so vielfältig wie beispielsweise die bei Woxikon.
Positiv hervorzuheben ist die Funktion, eine Kombination von zwei oder mehreren Wörtern (beispielsweise für idiomatische Wendungen) eingeben zu können, auch wenn die Ergebnisse nicht immer überzeugen. Da hat dict.cc für mich die Nase vorn.
Beim Suchen formt sich die Denkrichtung
Insgesamt könnte DeepL für mich nie als Wörterbuchersatz dienen. Die dokumentierten Ergebnisse zeigen, dass manche Wörtersuche passgenau war, viele aber auch nicht. Wahrscheinlich wäre das bei anderen Wörterbuchuntersuchungen ähnlich. Denn oft formt sich durch die Suche erst langsam die Richtung, in der ich weiterdenken will, und führt dann zu dem Ergebnis, auf das ich durch Hinweise aus Wörterbüchern in Kombination mit dem umgebenden Kontext des Ausgangstextes gekommen bin. Letztendlich ist es ein Abwägen, ein Verknüpfen von gerade Gelesenem und vorhandenem Wissen, um dann die Entscheidung zu treffen, was am besten passt und in der Übersetzung landet.
Dokumentation
In folgender Dokumentation ist mit der ersten Eingabe immer die bei DeepL gemeint. Ich fange mit der Übersetzung von Satz 1 an und benutze die Wörterbücher generell auch gerne als Synonymschatz und Gedankenstütze.
Rohübersetzung
- Lektüre des Textausschnitts in der Originalsprache
(15 min) - Suche im Netz nach einer Zusammenfassung des ganzen Romans.
DeepL-Suche Begriff »margin« nicht befriedigend. Danach dict.cc und Langenscheidt. Bei Langenscheidt an zweiter Stelle der Begriff »Seitenrand«, was nach Lektüre der Zusammenfassung der richtige Begriff für den Titel scheint.
(15 min) - Eingabe: »pacing the corner«; Partizipkonstruktion »in der Ecke auf und ab gehend« oder »um die Ecke schreitend« passen hier nicht, »schreiten« nehme ich als Basis für die Übersetzung.
Eingabe: »outstanding«. Ergebnis »herausragend« und Synonyme passen nicht. Unter »Wörterbuch seltener« führt mich der Eintrag »bemerkenswert« in die richtige Richtung.
Eingabe: »begrudgingly accommodating coworker«. Alle drei Ergebnisse, »Mitarbeiter, der nur widerwillig entgegenkommt«, »hilfsbereiter Mitarbeiter«, »entgegenkommender Mitarbeiter«, passen nicht.
Eingabe: »begrudgingly«, Ergebnisse »ungerne, beneidend, misgönnend« helfen nicht. Da muss ich selbst weiterdenken.
Eingabe: »beady-eyed«. Ich erinnere mich dunkel an eine sprechende Beschreibung, aber was genau? Ergebnis rund um »Perlenauge« totaler Blödsinn. Dict.cc bringt mich mit »scharfäugig« auf die richtige Spur. Entscheide mich erst einmal für »wachsam«
Eingabe: »stenciled«. Aha, irgendetwas mit Schablonen, Schablonenschrift. Muss ich wohl mal recherchieren, wie alte Tapeten ausgesehen haben.
Eingabe »pivot«. Ergebnis: »Drehpunkt, schwenken«. Dict.cc bietet mir »sich drehen«. Das passt besser.
Eingabe »than the eighties-styled jumpsuits circling back into fashion«. Mit dem Ergebnis »als die wieder in Mode gekommenen Jumpsuits im Stil der Achtzigerjahre« kann ich arbeiten.
Eingabe: »mansion«. Derselbe Begriff als Ergebnis nutzt mir nichts. Dict.cc bietet u.a. »Villa«. Logisch. Mir war nur »Haus« eingefallen.
(1 h 10 min) - Eingabe: »multitask«. Ergebnis: »multitask«. Bei dict.cc dasselbe. Im Duden ist der Begriff zwar noch nicht als Verb angekommen, werde ich aber trotzdem benutzen.
Eingabe: »genuine«. Ergebnis: »echt«, das passt.
Eingabe: »prod«. Ergebnis: »anstacheln«, bei dict.cc u.a. »anspornen«, Pons u.a. »antreiben, drängen«. Wahrscheinlich wird es Letzteres.
Eingabe: »pure breed«. Ergebnis: »Reinzucht«, Synonym »reinrassig«. Hm, alles Richtung »Rasse« empfinde ich mit unserer Vergangenheit als schwierig. Werde mir eine Alternative überlegen. Habe mich für: »eine Klasse für sich« entschieden.
Eingabe: »indefatigable«. Ergebnis: unermüdlich.
Eingabe: »marked enthusiasm«. Ergebnis an vierter Stelle: »ausgeprägter Enthusiasmus«.
Eingabe: »seamlessly«. Ergebnis: »nahtlos«, Synonyme: »problemlos«. Ich entscheide mich für »mühelos«.
Eingabe: »cornerstone«. Ergebnis: »Eckpfeiler«. Nö. So wie die Rede der Verlagschefin läuft, werde ich etwas in Richtung »Flaggschiff« wählen, was auch gut zu dem späteren Vergleich im Text passt.
Eingabe: »brass«. Ergebnis: »Messing«.
Eingabe: »conform«. Ergebnis: »konform« – nö – im Wörterbuch »anpassen«, den Begriff nehme ich.
Eingabe: »high-standing«. Ergebnis: »hochstehend, hochrangig«. Synonyme u.a. »hohe …, hohes …« Hm, hohe Prinzipien?
Eingabe: »high principles« Ergebnis: neben »Hohe Grundsätze« taucht als zweite Alternative »oberste Prinzipien« auf. Ja, das ist es. Da stand ich wohl oben auf dem Schlauch.
Eingabe: »produce«, weil ich ein Synonym für »herstellen« suche. »Erzeugen« wird als Alternative genannt. Diesen Teilsatz aus dem Original streiche ich aber.
Eingabe: »as a means of«. Ergebnis: »als Mittel zur, als Mittel zum«. Werde ich vereinfachen.
Eingabe: »fine-tune«. Ergebnis: »Feinabstimmung«, im Wörterbuch »feilen«. Da muss ich wohl insgesamt freier werden.
Eingabe: »vetted«. Ergebnis: »überprüfte«. Langenscheidt u.a.: »auf Herz und Nieren prüfen«. Da es sich im Text um Manuskripte handelt, werde ich wohl ein Partizip aus »prüfen« daraus machen.
(1 h) - Eingabe: »sentiment«. Ergebnis: »Stimmungslage«, Wörterbuch »Gedanke«.
Eingabe: »edit«. Ergebnis »Überarbeitung«. Fügt sich nicht in den Satz ein. Handelt sich um das Projekt, an dem sie momentan sitzt. Langenscheidt: »Textbearbeitung«, dict.cc führt unter »copy edit (unverified)« »Lektorat« auf. Das passt in den Zusammenhang.
Eingabe: »Epistemophiliac’s Guide«. Ergebnis: u.a. »Handbuch für Epistemophile«. Eine längere Recherche im Netz zu Fachbegriff gestaltet sich schwierig. Einer der seltenen Fälle, wo ich in der Übersetzung zwei Begriffe anbiete, nämlich den oben genannten Begriff und »Wissensdurstige«. Da müsste dann der Verlag entscheiden, was er seinen Leser:innen zumuten will.
Eingabe: »onslaught«. Ergebnis: »Angriff, Ansturm«. Werde in dem Fall aus dem Substantiv ein Adjektiv machen und wähle »vielfältig«.
Eingabe: »foundational place«. Ergebnis: »Gründungsort, Gründungsstätte«. Nope, hier geht es um die Wichtigkeit des Verlags. Suche in dict.cc: »foundational«. Ergebnis: »grundlegend«. Ich löse mich davon und entscheide mich für »wichtigste Anlaufstelle«.
Eingabe: »sliver of space«. Ergebnis: »Weltraumfetzen« und ähnlicher Blödsinn.
Eingabe: »sliver«. Ergebnis unter seltener: »hauchdünne Scheibe.« In die Richtung denke ich weiter.
Eingabe: »sharp eyes«. Ergebnis: »scharfe Augen, scharfer Blick«. Die Konstruktion mag ich grundsätzlich nicht. Ich werde »wachsam« nehmen.
Eingabe: »speak up«. Ergebnis: »den Mund aufmachen«. Passt.
Eingabe: »chugging«. Ergebnis: »Tuckern«. Werde ich wohl nicht mitübersetzen.
Eingabe. »rosewood«. Ergebnis: Palisander.
Eingabe: »bobbing«. Ergebnis: »dümpeln«.
(1 h 30 min)
Erste Überarbeitung
- Durchsicht meiner Übersetzung mit zeitlichem Abstand. Lektüre möglichst als »Leserin« ohne Zuhilfenahme von Wörterbüchern. Dabei überprüfe ich die Lesbarkeit des Textes, läuft er flüssig, ergibt alles einen Sinn, wo müssen in der Satzstellung für die Lesbarkeit Umstellungen stattfinden, etc?
(20 min)
Zweite Überarbeitung
- Abgleich meiner Übersetzung mit dem Original. Überprüfung von Begriffen, an denen ich hängenbleibe. Sei es zur Rückversicherung, Synonymsuche … Dabei kommt es durchaus vor, dass ich einen Begriff auch noch ein zweites Mal nachschaue, wenn ich mit der Lösung, der Passgenauigkeit im Text noch nicht so ganz zufrieden bin.
- Eingabe: »eerily«. Ergebnis: »unheimlich«. Hm, vielleicht nehme ich das doch lieber anstelle von »bedrohlich«.
Eingabe: »frown at«. Ergebnis. »anstarren«. Ist mir zu wenig. Bei einsprachigen Wörterbüchern spielt das Missfallen, die Ablehnung immer eine Rolle. Da werde ich wohl noch ein Adjektiv brauchen.
Eingabe nochmals: »pivot«. Ergebnis wie gehabt.
Eingabe: »bow down«. Ergebnis: sich verneigen, sich beugen. Im Zusammenhang mit »pressure« werde ich »nachgeben« nehmen.
(40 min)
Rücksprache mit Native Speaker
Das mache ich am liebsten im direkten Gespräch mit einer amerikanischen Kollegin, die hier in Deutschland lebt.
Dabei ging es um den Bandwurmsatz gleich zu Anfang, wo ich wissen wollte, ob ich den Auftritt richtig erfasst habe.
Um die Beschreibung der Tapete.
Um die Berufsbezeichnung der Protagonistin.
Und um die Motivationsrede der Verlagschefin.
Und dann soll’s genug sein, und eine Lektorin wäre an der Reihe.
Review
von Ursula Wulfekamp
Zunächst lese ich den deutschen Text einmal so durch, wie ich den Anfang eines Buchs lesen würde, das ich in einer Buchhandlung in die Hand nehme. Der erste Eindruck: sehr schön! Vor mir entsteht ein rundes, in sich stimmiges Bild, ich kann mir in etwa vorstellen, um welche Art Roman es sich handelt. Der Gedanke, dass es sich um einen aus dem Englischen übersetzten Text handelt, drängt sich nicht auf – bei mir regt sich nicht sofort die Berufskrankheit, zum Stift greifen und überall herumstreichen zu wollen.
Auch beim Abgleichen mit dem Original stolpere ich nicht über Ungereimtheiten, manche Formulierungen begeistern mich regelrecht: die »wieder angesagten Jumpsuits« etwa, die »Klasse für sich« für das heikle englische »race«, »Horizont« für »minds«. Und der deutsche Titel spricht mich in seiner Knappheit tatsächlich mehr an als der englische, zumal er dazu beiträgt, dem Roman schon eingangs einen Rahmen zu geben.
Sehr gut gefällt mir auch, wie Alexandra Rak das Problem der Schachtelsätze gelöst hat, die ja selbst im Englischen bisweilen etwas unbeholfen klingen (etwa »And one of the benefits of not being one inch over five feet tall …«) und im deutschen Text jetzt recht flüssig zu lesen sind – wiewohl natürlich auch die Möglichkeit bestünde, sie zu teilen. Sicher würde ich hier und da etwas anders machen. So frage ich mich, weshalb meine Kollegin darauf verzichtete, die Dopplung des »most curated« ins Deutsche zu übernehmen, und beim dritten Lesen frage ich mich, ob frau in Stöckelschuhen wirklich schreiten kann – aber das sind Kleinigkeiten.
Dass die Übersetzerin DeepL als Hilfsmittel verwendet hat, merke zumindest ich dem deutschen Text nicht an. Die Übersetzung liest sich für mich weder künstlich noch entzieht sie sich tendenziell dem Verständnis, wie ich es von DeepL-Übersetzungen kenne. Das ist hier ganz und gar nicht der Fall, es ist ein flüssiger, wunderbar »deutscher« Text.
Überhaupt decken sich Alexandra Raks DeepL-Erfahrungen und ihre Einschätzung erstaunlicherweise mit meinen: Ja, man kann DeepL verwenden, man kann aber auch darauf verzichten; ja, DeepL als erstes Wörterbuch verwenden zu müssen, ist zeitaufwändig. Sie kritisiert ebenso wie ich, dass Vorschläge nicht in ein Umfeld gebettet werden, und dass die »an und für sich hilfreiche Synonymsuche des angebotenen deutschen Wortes dann querbeet munter durch alle Wortgruppen geht« – das muss ich wörtlich zitieren, so zutreffend finde ich das.
Zweierlei würde mich allerdings interessieren: Weshalb meine Kollegin nicht bei ihrer Idee des »Flaggschiffs« für »cornerstone« blieb? Und ob sie auch das – bei mir ausgeprägte Gefühl – hatte, dass DeepL sie in ihrem Sprachgefühl irritiert? Ich glaube, das könnte ein ziemlich langes Gespräch zwischen uns beiden werden.
Bild: Виталий Сова