Mit KI, aber wann und wie?

Leslie Fried, Vera  Elisabeth Gerling und Belén Santana berichten aus dem Düsseldorfer Masterstudiengang Literaturübersetzen vom Einsatz KI-gestützter Maschinenübersetzung in der Lehre.


Angesichts der rasanten Entwicklungen im Bereich von KI-gestützter maschineller Übersetzung muss sich auch die Lehre der Herausforderung stellen, Studierende des Literaturübersetzens für deren Funktionsweisen zu sensibilisieren. Unser Beitrag ist der Versuch, ausgehend von einem spezifischen Lehr- und Lernkontext anhand eines kurzen Textbeispiels aus Ramon José Senders Roman Réquiem por un campesino españolüber die Anwendung von KI in der Literaturübersetzungsdidaktik zu reflektieren.

Spätestens nach dem ChatGPT-Launch im November 2022 hat das Potential von KI einen regelrechten Hype im übersetzerischen Kosmos ausgelöst. Professionelle Literaturübersetzer:innen weltweit sind damit beschäftigt, die Chancen und Risiken von KI-Tools zu erfassen und deren berufliche Folgen kritisch zu reflektieren. Auch in der Forschung findet derzeit eine intensive Auseinandersetzung zum Thema KI und (Literatur-)Übersetzung statt. Hierzu bietet der Artikel von Waltraud Kolb interessante Einblicke.

Gerade an der Schnittstelle zwischen Forschung und Berufspraxis liegt die nächste Frage auf der Hand: Welche Auswirkungen hat der Einsatz von KI für die Ausbildung angehender Literaturübersetzer:innen? Allgemeingültige Aussagen wären sicherlich verfrüht, jedoch ist der Einfluss von KI auf die Übersetzungsausbildung aus einer praxisbezogenen Perspektive nicht mehr wegzudenken. Vor diesem Hintergrund haben die Autorinnen im Sommersemester 2023 im Rahmen des Seminars »Von Profis lernen« an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf eine spanischsprachige Textpassage behandelt. Belén Santana und Vera Elisabeth Gerling haben das Seminar gemeinsam durchgeführt, Leslie Fried hat es als fortgeschrittene Studentin begleitet. Durch den Vergleich des Originals mit den a) von Studierenden, b) vom Profi Thomas Brovot und c) von KI generierten Übersetzungen sowie aller Übersetzungsvarianten untereinander möchten wir der Frage nachgehen, inwieweit und mit welchen Folgen KI für übersetzungsdidaktische Zwecke eingesetzt werden kann.[1]

Unsere Herangehensweise beruht auf drei literaturkritischen und -didaktischen Grundsätzen: der vom New Criticism geprägten Methode des »close reading«, dem von Gaddis Rose aktualisierten Begriff des »stereoscopic reading« sowie Kwame Anthony Appiahs Gegensatz zwischen »thick« und »thin translation«: Unter »close reading« versteht man die präzise Interpretation einer (meist kurzen) Textpassage anhand der formalen und inhaltlichen Elemente, die ausschließlich dem Text zu entnehmen sind, d. h. vorerst ohne eingehende Recherche über Autor:in oder Werk. Das »stereoscopic reading« bezeichnet wiederum, mit Anklang an Walter Benjamin, den Vergleich des Originals mit einer (oder mehreren) Übersetzung(en) als didaktisches Instrument zur Textanalyse. Und schließlich gehörte es bei unserem Seminar im Sinne des Begriffs der »thick translation« des Philosophen Appiah zum Aufgabenportfolio der Studierenden, den Ausgangstext unter Berücksichtigung seiner Kontextualisierung detailliert zu kommentieren. So soll ein umfassendes Verständnis der Bedeutungskomplexität literarischer Texte trainiert werden. Für den Prozess des Übersetzens bedeutet dies, angesichts der vielfältigen, ambivalenten, womöglich sogar widersprüchlichen Verweise abzuwägen, wie eine möglichst adäquate Übertragung gelingen kann. Auch Einzelfallentscheidungen sind somit durch Einbeziehen des ganzen Textes und seiner inneren und äußeren Bezüge zu treffen.

In unserem Fallbeispiel haben wir nur Versionen von DeepL und ChatGPT 3.5 benutzt, die kostenfrei und damit allgemein zugänglich sind. Dabei sollte man beachten, dass DeepL eine dezidierte Übersetzungssoftware ist, während ChatGPT nicht primär für translatorische Zwecke konzipiert wurde, jedoch mit den richtigen Prompts Übersetzungsaufgaben ausführen kann.

Für unseren Beitrag haben wir eine sehr kurze Textstelle aus dem Roman Réquiem por un campesino español (1960) von Ramón José Sender ausgewählt, die auf den ersten Blick keine besonderen Herausforderungen an die Übersetzenden stellt, jedoch verschiedene spezifische, didaktisch wertvolle Problemstellungen aufzeigt. Sender (1901–1982) war ein politisch engagierter Journalist und Schriftsteller, dessen Frau und Bruder im Spanischen Bürgerkrieg von den Faschisten umgebracht wurden. In seinem berühmtesten, im Exil verfassten Roman, zunächst 1953 unter dem Titel Mosén Millán publiziert, schildert Sender den Ablauf eines Tages aus der Sicht des katholischen Priesters Mosén Millán, der in einem aragonischen Dorf auf die Gäste für ein Jahresamt zu Ehren Pacos wartet. Das zentrale Moment des Romans, das auch die Stimmung markiert, liegt im Schuldgefühl: Der Priester selbst hatte im Vertrauen auf Rechtstaatlichkeit Paco überredet, sich zu stellen. Der wurde dann jedoch aber ohne jeden Prozess getötet.

 

Analyse der verschiedenen Übersetzungsvarianten

Die hier verwendete Textstelle ist im Original und in den jeweiligen Versionen als PDF einsehbar und kann heruntergeladen werden. Wir gehen bei der Analyse chronologisch vor:

Bei der Textstelle handelt es sich um den Romananfang. Bereits im ersten Satz fällt die Häufung von religiösen Begriffen ins Auge: Die katholische Zuordnung von Substantiven wie »cura«, »casulla« und »oficios de réquiem« erschließt sich aus dem Kotext sowie dem kulturspezifischen Kontext des Romans.[2] Im Deutschen hat man bei »cura« die Wahl zwischen »Pfarrer« und »Priester«; »Pastor« wäre aufgrund der protestantischen Orientierung inadäquat. Die Recherche ergibt, dass das Priesteramt nur in der katholischen Kirche vorkommt. Ein Pfarrer hingegen ist entweder ein Priester, der eine Gemeinde leitet, oder ein ausgebildeter Geistlicher im evangelischen Kirchendienst. ChatGPT schlägt hier »Priester« vor, und begründet es bei der späteren Nachfrage mit dem Argument, dies sei in der Region Aragón als Bezeichnung üblicher. Diese Behauptung ist jedoch willkürlich und entzieht sich der Sprachlogik. Bei »casulla« hat man die Wahl zwischen »Kasel«, »Messgewand« oder »Gewand«, was nicht ohne weitere Recherche zu entscheiden ist. Die Studierenden waren diesbezüglich unsicher. Dabei stellt sich auch die Frage nach dem Wortgebrauch in beiden Sprach- und Kulturkreisen aus diachronischer und synchronischer Perspektive (Begriffe lateinischen Ursprungs wie »casulla« bzw. »Kasel« können für spanischsprachige Leser:innen grundsätzlich transparenter sein). DeepL bietet »Messgewand« an, während ChatGPT zwischen »Chorhemd« und »Kasel« schwankt. Das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache (DWDS) führt zwar einige Verwendungsbeispiele für »Kasel« in der allgemeinen Presse bis 1995 an, häufig wird das Wort im Deutschen jedoch nicht verwendet. Bei »oficios de réquiem« ist die Problematik ähnlich (»Toten-« vs. »Seelenmesse« vs. »Requiem«, was im Deutschen eher als musikalisches Genre verstanden wird). Hinzu kommen der Bezug zum Buchtitel sowie der typographische Aspekt der Kursivschrift, die von der KI nicht berücksichtigt werden. DeepL bietet die wörtliche, etwas sperrige Übersetzung »das Messgewand des Requiemamtes«. Auch gebräuchliche Wörter wie »sillón« können problematisch sein. Darunter versteht man eine bequeme, meist gepolsterte Sitzfläche ― in diesem Kontext passend für das Gemeindeoberhaupt. Zwei Studierende haben diesen Begriff mit »Stuhl« übersetzt. Ein Abgleich mit der KI-Fassung kann hier nützlich sein, um Flüchtigkeits- oder Verständnisfehler zu vermeiden, da es sich offensichtlich um einen Sessel handelt.

Die Konstruktion »esperaba sentado« stellt eine grammatikalische Herausforderung dar. Im Spanischen handelt es sich um ein Verb plus Partizip mit adjektivischer Funktion, das sich auf das Subjekt bezieht und die Simultaneität von zwei Handlungen ausdrückt (warten und sitzen). Eine direkte Übertragung, bspw. durch ein deutsches Partizip I, wäre inadäquat. Brovot drückt die Simultaneität durch ein schlichtes »und« aus, indem er die Satzstruktur umstellt. DeepL verzichtet auf die Handlung des Wartens, während ChatGPT sie in ein Adjektiv verwandelt, das zunächst sinnentstellend positiv wirkt: »saß erwartungsvoll«. In späteren Anfragen an ChatGPT findet man die Konstruktion mit »und«, der Aspekt des Wartens wird aber ausgelassen: »Der Priester saß in einem Sessel und neigte den Kopf.« Für die Konstruktion gibt es im Deutschen kein idiomatisches Äquivalent, jedoch wird der Aspekt des Wartens besonders betont, wenn er in der publizierten, syntaktisch freien Übersetzung von Brovot durch die Endstellung von »und wartete« hervorgehoben wird.

Im zweiten Satz stellt sich die Frage nach der Übersetzung des Verbs »oler«. ChatGPT benutzt das Verb »riechen«, während DeepL für das angesichts der Stimmung unpassend positiv konnotierte Verb »duften«plädiert. Das Original ist neutral. In der Übersetzung von Brovot sehen wir den besonderen Kniff, das Substantiv »die Sakristei« in den vorhergehenden Satz einzuarbeiten: »[…] saß der Pfarrer auf seinem Stuhl in der Sakristei und wartete. Es roch nach Weihrauch.« Über den Grund für diese Umstellung lässt sich nur spekulieren. Jedenfalls entsteht so ein knapper, aber rhythmisch klingender Ausdruck. Der professionelle Übersetzer geht hier flexibler mit der Syntax des Originals um.

Die beschreibende Passage »En un rincón…« bis »caían al suelo« beginnt mit einer Ambivalenz: »había« benennt sehr offen das Vorhandensein von etwas. Die Verkleinerungsform »ramitos« weist darauf hin, dass es sich um kurze, gebündelte Olivenzweige handeln muss. »Stehen« wäre daher hier sehr unwahrscheinlich, es bliebe noch zwischen »hängen«, »liegen« und »lehnen« abzuwägen. Die Studierenden präsentieren in ihren Versionen alle vier Möglichkeiten, auch »war« kommt vor. Diese Wahl ist im Deutschen jedoch außergewöhnlich unspezifisch. DeepL und ChatGPT verwenden das Verb »liegen«. Für die Vergangenheitsform »haber sobrado« bietet sich im Deutschen die Wendung »übrig bleiben« an, wie im PONS online Wörterbuch unter dem Lemma »sobrar« als erster Eintrag zu finden ist. Die meisten Studierenden übersetzen wörtlich im Plusquamperfekt: »übriggeblieben waren«. Ebenso sehen wir es auch in der Fassung von DeepL und ChatGPT. Eine Studentin verkürzt sehr sinnvoll und idiomatisch passend zu: »übrig waren«. Tatsächlich ist hier die Übernahme des Tempus nicht nötig. In der publizierten Übersetzung finden wir eine freiere, idiomatisch besonders gut treffende Formulierung: »In einer Ecke lag noch ein Bündel Olivenzweige von Palmsonntag.« Das Adverb »noch« kompensiert den Verzicht auf die wörtliche Übersetzung (»übriggeblieben waren«), zudem wird der verknappte Stil des Ausgangstextes übernommen.

Bei der Beschreibung der metallen wirkenden, trockenen Blätter der Olivenzweige ist wiederum zu beachten, dass die Konjunktion »y« nicht einfach nur »und« bedeutet, sondern auch einen konsekutiven Gedanken implizieren kann: Weil die Blätter vertrocknet sind, wirken sie wie Metall, das bei Berührung zerfällt. Eine studentische Version lautet »trocken, hart wie Metall«, was gelungen knapp ist und eine gewisse konsekutive Wirkung haben kann, aber den Zustand der Blätter auf Härte festlegt, obwohl »parecían de metal« ambivalent und vage bleibt, da es sich sowohl auf das Aussehen als auch auf die Konsistenz beziehen kann. Die Lösungen von DeepL und ChatGPT sind hier sehr unterschiedlich: »sahen aus wie Metall« bzw. »und wirkten metallisch«. ChatGPT löst sich von der Wörtlichkeit durch den Wechsel der Wortart, jedoch gehört die Verwendung des Adjektivs »metallisch« eher in technische Kontexte. Brovot formuliert wiederum idiomatisch passend bei Verzicht auf das Verb: »Die Blätter waren vertrocknet, wie aus Metall.« Die Knappheit wird hier ermöglicht, da sich im deutschen Satz das Verb »waren« auf beide Elemente bezieht.

Im darauf folgenden Satz finden wir bei den studentischen Lösungen eine starke Übereinstimmung mit der Version von ChatGPT, die semantisch korrekt und sehr wörtlich ist, jedoch eine stilistisch ungeschickte Wiederholung beinhaltet: »Mosén Millán vermied es, sie beim Vorbeigehen zu berühren, da sie abfielen und auf den Boden fielen« – semantisch korrekt und im Gegensatz zu unserer Erwartung sogar überraschend abweichend in der Syntax. Allerdings wird die idiomatische Wendung »al pasar« kurzerhand mit der z.B. bei PONS online vorgeschlagenen Bedeutung »im Vorbeigehen« übersetzt. Hier bietet uns wiederum die Version des Profis eine weniger wörtliche, aber idiomatisch plausible Lösung an, die auch den leicht antiquierten Stil des Ausgangstextes aufnimmt: »Wenn Mosén Millán in die Nähe kam, passte er auf, dass er sie nicht berührte, weil sie sich gleich lösten und zu Boden fielen.« Auf die Bitte hin, die Übersetzung der traurigen Stimmung anzupassen, beendet ChatGPT den Satz mit »sanken auf den Boden«, was aber wiederum in der Textlogik nicht zu den wie Metall wirkenden Blättern passt, da »zu Boden sinken« nur für sehr leichte Gegenstände angemessen wäre.

Im Satz »Iba« bis »humildes« verbirgt sich eine Schwierigkeit im Begriff »huerto de la abadía«. Die gebräuchlichste Übersetzung für »abadía« ist »Kloster« oder »Abtei«, was allerdings im Kontext des kleinen Dorfes unlogisch erscheint. Laut dem Wörterbuch der Real Academia Española wird unter »abadía« in der Region Aragón, wo der Roman angesiedelt ist, ein Pfarrhaus verstanden. Die korrekte Übersetzung für »huerto de la abadía« wäre beim vorliegenden Text demnach nicht »Klostergarten« oder »Garten des Klosters / der Abtei«, wie DeepL und ChatGPT sowie die meisten Studierenden schreiben, sondern der »Garten des Pfarrhauses«. Oder, wie bei Brovot passend zum Stil des Ausgangstexts noch zum Kompositum verknappt, der »Pfarrgarten«. Von allein scheinen zumindest weder ChatGPT noch DeepL die Herkunftsregion des Textes und deren eventuelle sprachliche Besonderheiten zu berücksichtigen. Weist man ChatGPT explizit darauf hin, dass der Autor des Textes aus Aragón stammt, und bittet um eine Neuübersetzung, bleibt eine Anpassung aus, auch bei direktem Fragen nach dem Begriff »abadía« und dessen möglicherweise abweichender Verwendung in Aragón. Stattdessen macht ChatGPT das Wort »führen« zu »hinausgehen«. Auf Nachfrage wird die Umformulierung mit der Absicht begründet, »die Verbindung zur Region Aragón zu stärken« – eine Aussage, die im Grunde nur die gegebene Anweisung wiederholt. Bei nochmaliger Aufforderung, den Text sprachlich an die Region Aragón anzupassen, bietet ChatGPT eine neue Version mit Elementen des bayrischen Dialekts an und verweist bei Ablehnung dieser Lösung darauf, er habe »keine spezifischen Informationen über den aragonischen Dialekt, um ihn korrekt in die Übersetzung einzubeziehen.« Darauf folgt diese Empfehlung: »Wenn du eine präzise Anpassung des Textes an den aragonischen Dialekt wünschst, empfehle ich dir, einen professionellen Übersetzer zu konsultieren, der mit diesem Dialekt vertraut ist.«

Eine andere Auffälligkeit des Originals findet sich bei »rumores humildes«, die durch die Fenster in die Sakristei dringen. Beim Adjektiv »humilde« schwingt im Spanischen eine religiöse Bedeutungskomponente mit, eine mögliche Übersetzung lautet »demütig«. Die Verwendung des Begriffs zur Beschreibung von Geräuschen ist im Spanischen tatsächlich ungewöhnlich, wodurch der Fokus hier auf die Textästhetik gelenkt und die Stimmung unterstrichen wird. Die meisten Studierenden wählen Begriffe zur Beschreibung der Lautstärke (»dumpf«, »gedämpft«, »leise«), die das zögerliche, zurückhaltende Element in »humilde« aufgreifen, gleichzeitig aber stilistisch weniger auffällig und gewagt sind. Auch DeepL übersetzt »humilde« hier mit »leise«, was vermutlich daran liegt, dass die Software Übersetzungsentscheidungen auf der Grundlage von Wahrscheinlichkeiten trifft. Allerdings macht das Programm im Drop-Down-Menü beim Anklicken des fraglichen Worts weitere interessante Vorschläge. Brovot übersetzt »humilde« mit »belanglos« – ebenfalls eine ungewöhnliche Wortwahl zur Beschreibung von Geräuschen, nur weicht die Bedeutung von der im Original ab –, während ChatGPT mit »bescheiden« die womöglich ausgefallenste Übersetzung liefert. Man könnte sagen, dass diese Variante beides transportiert: stilistische Auffälligkeit sowie die religiöse Bedeutungskomponente. Zumindest schwingt bei »bescheiden« eine ähnliche Bedeutung mit wie bei »demütig«.

 

Fazit

In der Analyse der Übersetzungen haben wir die Vorschläge der Studierenden mit den Übersetzungsversionen von DeepL und ChatGPT abgeglichen und zudem die publizierte Übersetzung von Thomas Brovot zurate gezogen. Zusammenfassend lassen sich folgende Rückschlüsse ziehen:

DeepL ist ein Übersetzungstool, das für die zur Verfügung stehenden Sprachen auf den ersten Blick semantisch korrekte, aber nicht immer idiomatisch stilsichere und textlogisch sowie kontextbezogen plausible Lösungen anbietet. Als Chatbot oder textbasiertes Dialogsystem erweist sich ChatGPT erst dann als nützlich, wenn die Übersetzenden sich bereits in einem selbstkritischen Dialog mit dem Ausgangstext befinden (López Guix in Sales 2023) und über die Grenzen und Möglichkeiten von KI aufgeklärt sind. Je besser die gestellten Fragen, umso besser fallen – in manchen Fällen – die Antworten aus. Bei vielen Entscheidungen, wie z. B. zwischen »Pastor/Priester/Pfarrer« oder »Kloster/Pfarrhaus« sind Übersetzende durch ihr Kulturwissen, ihre Recherchekompetenz (Santana/Travieso in Sales 2023) bzw. die Erfahrung vor Irrtum gefeit, während bei der KI aufgrund der rechnerischen Wahrscheinlichkeiten bei der Mustererkennung ggf. zufällig eine korrekte Übersetzung erscheint.[3] Um überhaupt diesbezüglich mit ChatGPT in Dialog zu treten, muss ja aber schon das geschulte Auge das Problem überhaupt erkannt haben. Gerade im Falle von »abadía« kann Schnelligkeit kein Argument für die KI sein: ChatGPT reagiert hier nicht beim Hinweis auf den Kontext Aragón, wohingegen man beim Blick ins einsprachige Wörterbuch der Real Academia bereits beim fünften Eintrag fündig wird.

Nützlich können Übersetzungssoftware und KI sein, um Verständnisschwierigkeiten auszuräumen. Da die Übersetzungsvorschläge jedoch tendenziell sehr nah an der Syntax des Originals bleiben, ist der Zeitpunkt für die Zuhilfenahme beim professionellen Übersetzen wie auch in der Lehre gut abzuwägen, damit die Übersetzenden sich nicht zu sehr von den Vorschlägen beeinflussen lassen. So kann die KI manchmal gute Denkanstöße bieten, vielleicht sogar für Problemstellen sensibilisieren, ggf. auch Schreibblockaden auflösen und Verständnishilfe leisten, gleichzeitig aber auch auf falsche Fährten locken und die Kreativität durch sogenannte Vorprägungs- und Hinderniseffekte einschränken, wie bspw. André Hansen in seinem Beitrag erläutert. Daher sollte sie nie ungeprüft eingesetzt werden. Weder Übersetzungssoftware noch KI sind gleichbleibend zuverlässig, unterschiedliche IP-Adressen und Zeitpunkte bringen unterschiedliche Ergebnisse hervor. Gerade im Kontext literarischer Ästhetik kann die KI nur bedingt kreative Vorschläge anbieten. So wurde auch nicht erkannt, dass die Verbkonstruktion »esperaba sentado« die lange Zeit des Wartens unterstreicht, was schon auf den Roman als Ganzes vorausweist: Das Warten ist die eigentliche Handlung des Romans. Hier zeigt die Version des Profis, wie im Deutschen durch den Satzabschluss »und wartete« die Betonung gesetzt werden kann.

Was zumindest derzeit gerade Menschen liefern, sind Übersetzungen, die in Idiomatik und sonstigem Ausdruck als ästhetisch geprägte Texte wahrgenommen werden. Sie sind dabei semantisch oft präziser als die KI-generierten Versionen, zugleich aber stilistisch adäquat, intratextuell plausibel und extratextuell mit Bedacht in die Zielsprache und -kultur übertragen. Menschen reflektieren zudem über die Grenzen und Möglichkeiten der eigenen Tätigkeit. Das Abwägen gemäß der steten Überlegung des »kommt darauf an« kann die KI nur bedingt leisten, und sie braucht dafür den menschlichen Input. Übersetzende sind Akteur:innen, die sich ihrer Rolle im literarischen Feld bewusst sind und somit auch ihr eigenes Handeln kontextualisiert vornehmen. Ein solch bewusstes, kontextualisiertes Abwägen jenseits von Wahrscheinlichkeiten, wie es beim Übersetzen von Literatur unabdingbar ist (vgl. hierzu Gerling / Schwarze 2009), leistet die KI in unserem Beispiel nicht. Vielmehr empfiehlt ChatGPT bei zu spezifischen sprachlichen Fragen selbst die Zuhilfenahme eines menschlichen Profis.

Für die Didaktik des Literaturübersetzens ergeben sich für uns folgende Schlussfolgerungen: Übersetzungstools und Chatbots sollten in den Lehrveranstaltungen intensiv mit behandelt werden, um die Sensibilität für deren Möglichkeiten und Grenzen hinsichtlich Recherche, Lösungsmöglichkeiten und Gegenkontrolle aufzuzeigen sowie mögliche Szenarien für ihren Einsatz auszuloten. Auch das Einüben der Post-Edition von KI-generierten Übersetzungen, das sich nach Ruiz Casanova (2023) zumindest für stark konventionalisierte und semantisch eindeutige Texte voraussichtlich etablieren wird, sollte Teil der Ausbildung sein. Durch den Vergleich von KI-generierten Übersetzungen mit denen der Profis, wie wir ihn in unserem Seminarkontext auch mit weiteren Beispielen selbst durchgeführt haben, lässt sich ein Gespür für den sinnvollen Software-Einsatz entwickeln und über das eigene Handeln und die Bedeutung der menschlichen Intelligenz und Sprachfähigkeit reflektieren. Übersetzungsprogramme und Chatbots sollten als weitere, komplementäre Hilfsmittel neben Wörterbüchern, Korpora, Internetrecherche und anderen Nachschlageoptionen in der Lehre des Literaturübersetzens berücksichtigt werden. So können schon Studierende eine Machine Translation Literacy erwerben, wie es auch Ziel der Initiative Kollektive Intelligenz ist.

 

Primärtexte:

Ramón J. Sender. 1988. Réquiem por un campesino español, Barcelona: Destino.

Ramón J. Sender: 2018. Requiem für einen spanischen Landmann. Übersetzt von Thomas Brovot. Zürich: Diogenes.

Sekundärtexte:

Appiah, Kwame Anthony. 1993. »Thick Translation.« In: Callaloo, Bd. 16, S. 808–819, https://www.jstor.org/stable/2932211

Gaddis Rose, Marilyn. 1997. Translation and Literary Criticism. Translation as Analysis. Manchester: St. Jerome Publishing.

Gerling, Vera Elisabeth; Schwarze, Brigitte. 2009. »Ist Literaturübersetzen lehrbar? Zur Rolle sprach- und literaturwissenschaftlicher Kompetenzen am Beispiel von Juan Rulfo.« In: Friedrich Lenz (Hg.). Schlüsselqualifikation Sprache: Anforderungen – Standards – Vermittlung. Frankfurt am Main: Peter Lang, S. 81–100. https:// www.peterlang.com/document/1106694

López Guix, Gabriel. 2023. »La conversación del traductor.« In: Dora Sales Salvador (Hg.). Documentación aplicada a la traducción y a la interpretación. Estrategias, fuentes y recursos documentales. Gijón: Trea, S. 93–112.

Ruiz Casanova, José Francisco. 2023. ¿Sueñan los traductores con ovejas eléctricas? La IA y la traducción literaria. Madrid: Cátedra.

Santana López, Belén; Travieso Rodríguez, Críspulo. 2023. »La documentación en traducción literaria: una serendipia organizada.« In: Dora Sales Salvador (Hg.). Documentación aplicada a la traducción y a la interpretación. Estrategias, fuentes y recursos documentales. Gijón: Trea, S. 193–214.

 

Fußnoten:

[1] An dieser Stelle möchten sich die Autorinnen bei den mitwirkenden Studierenden für ihre Bereitschaft und die exzellente Zusammenarbeit bedanken.

[2] ChatGPT kann diese Herausforderung auf Nachfrage benennen: »Kulturelle Nuancen: Der Text stammt aus einer bestimmten Region, nämlich Aragón in Spanien. Bestimmte Begriffe, Wendungen oder Atmosphären könnten spezifisch für diese Region sein und im Deutschen möglicherweise nicht direkt übersetzbar sein. Daher ist es wichtig, die regionalen Nuancen zu verstehen und sie im Übersetzungsprozess angemessen zu berücksichtigen.« In der Umsetzung liefert der Chatbot dann jedoch, wie unsere Analyse zeigt, keine kontextuell präzise Lösung.

[3] ChatGPT begründet die Wahl »Pfarrer« nach dem Hinweis auf den Kontext Aragón mit einem kontextuell nicht nachvollziehbaren Argument: »Da der Autor aus Aragón stammt, habe ich das Wort ›Pfarrer‹ verwendet, da es in dieser Region oft üblicher ist als ›Priester‹.«