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Zwischen Wissenschaft und Technik: Die Rolle der Literaturübersetzerin

Paola Ruffo untersuchte in ihrer Dissertation das Selbstverständnis von Literaturübersetzerinnen und ihr Verhältnis zur Technik. Die Wissenschaftlerin gibt nun einen Überblick zum Forschungsstand.


Künstliche Intelligenz (KI) kann inzwischen schreiben und übersetzen, und sie wird uns in nächster Zukunft die Arbeit wegnehmen – an zahllosen Artikeln dieses Inhalts kommt man derzeit kaum mehr vorbei. Zwar sind einige der neuesten technologischen Entwicklungen tatsächlich beeindruckend, ihre Folgen für den Arbeitsmarkt sind ernst zu nehmen, allerdings ist die ganze Wahrheit meist viel komplexer als die wenigen Körnchen in einzelnen Artikeln. Bei genauerem Hinsehen erweist sich die Leistungsfähigkeit dieser Systeme außerhalb sorgfältig präparierter Beispiele durchaus noch als beschränkt, während ein Teil der Erfolgsmeldungen gar als widerlegt gelten muss.

 

Der vertikale Sprung

Für literarisches Übersetzen war man bisher stets davon ausgegangen, dass Translationssoftware wie Computer-Aided Translation Tools (CAT-Tools) und maschinelle Übersetzungssysteme (MÜS) den spezifischen Anforderungen künstlerischer Texte nicht gewachsen sind. Hier vollzieht sich nun allmählich eine Wende, in dem Maße, wie sich  kommerzielle Praktiken, wissenschaftliche Schwerpunkte und praktische Arbeitsmethoden mit einer vorandrängenden Produktentwicklung verändern. Dies wirft tiefgreifende Fragen, etwa nach der (neuen?) Funktion und Stellung der Literaturübersetzerin in einem von ständigen Metamorphosen geprägten technischen Umfeld oder nach den Konsequenzen der KI für Übersetzungsprozesse und -produkte sowie urheberrechtliche und ethische Probleme auf.

Legt man die Experimentalberichte aus dem Projekt Kollektive Intelligenz zugrunde, muss man wohl davon ausgehen, Searle’s Gedankenexperiment des Chinesischen Zimmers besitze für Literaturübersetzerinnen noch immer Gültigkeit, zeigt die übersetzende Maschine doch noch stets – im Detail vielleicht, dort aber eindeutig – ein fehlendes Verständnis. Immerhin lernt die Maschine aus Daten, hat indes keine Erfahrung mit Daten, ein Unterschied wie zwischen Bildung und Kultur. Chiara Valerio fasst den Sachverhalt in ihrem Buch La matematica è politica (Mathematik ist politisch) wie folgt: „l’istruzione è orizzontale e collettiva, la cultura invece verticale e individuale“, Bildung sei also horizontal und kollektiv, Kultur hingegen vertikal und individuell. Bisher scheint auch die raffinierteste KI-Technologie mit diesem vertikalen Sprung – wenn sie nicht schlicht scheitert – noch Probleme zu haben und bewegt sich stattdessen auf einer horizontalen Ebene kumulierter kollektiver Daten. Ihr Output ist deswegen nicht gleich nutzlos, denn auch Bildung ist an sich nicht nutzlos. Wesentlich fürs literarische Übersetzen ist allerdings doch wohl die Fähigkeit, persönliche Erfahrung mit Wissen zu verknüpfen, Informationen einzuordnen und zu interpretieren, um daraus einen sinnvollen Text zu formen, und schließlich treffsicher zwischen deduktivem und induktivem Vorgehen zu changieren.

 

Berufsbild und Selbstverständnis von Literaturübersetzerinnen

Passend dazu haben Studien zum Berufsbild der Literaturübersetzerinnen herausgearbeitet, dass deren Selbstverständnis insbesondere Eigenschaften spiegelt, die sich nur schwer in Kategorien von Professionalität fassen lassen: Berufung, Kreativität und Leidenschaft zählen dazu. Heino (2020) konstatiert, soziales und kulturelles Kapital habe für Literaturübersetzerinnen tendenziell einen höheren Stellenwert als das ökonomische. Ihre Stellung in der Übersetzungsbranche gründet auf einer bei Voinova und Shlesinger (2013: 41) sogenannten „strange outsiderness“, einer merkwürdigen Außenseiterrolle. Folgt man Sela-Sheffy (2008), beziehen sich Literaturübersetzerinnen für ihr Berufsverständnis hauptsächlich auf drei Idealtypen, nämlich 1) den Sprachpfleger, 2) den Kulturbotschafter und -neuerer sowie 3) den Künstler.

Zu ähnlichen Ergebnissen gelangte ich mit meiner Doktorarbeit über das Selbstverständnis von Literaturübersetzerinnen und ihr Verhältnis zur Technik. So zählten für die 150 Vertreterinnen ihres Fachs, die meinen Fragebogen ausgefüllt zurückschickten, Schreibkompetenz, Leidenschaft, Kreativität und künstlerische Sensibilität zu den wesentlichen Eigenschaften einer Literaturübersetzerin. In ihren Antworten betonten sie persönliche Qualitäten und Fähigkeiten, Erfahrungen und Hintergründe, damit zeichneten sie das Bild eines unverwechselbaren und unersetzlichen Milieus. So schrieb eine Teilnehmerin: „nothing can help the absence of inborn or acquired feeling for the subtleties of a given [literary] text“, demnach sei ein angeborenes oder erworbenes Gespür für die Feinheiten eines vorliegenden literarischen Textes ganz unabdingbar. Außerhalb des Kreises der Literaturübersetzerinnen sehe man das allerdings anders, das gaben 73 % der eingereichten Fragebögen zu Protokoll. Noch in jedem zweiten Fragebogen stand zu lesen, Außenstehende machten sich die Implikationen des Berufes entweder nicht bewusst oder würden sie nicht durchdringen.

 

Eigenwilliger Umgang mit der Technik

Der Fragebogen erfasste auch Daten über die persönliche Einstellung zu Technik und deren Einsatz: Insgesamt 49 % der Literaturübersetzerinnen formulierten eine positive Grundhaltung gegenüber elektronischen Hilfsmittel (Ruffo 2022). Dabei korrelierten die positiven Haltungen hauptsächlich mit dem Gebrauch generischer Instrumente (bspw. Internetsuche, Online-Wörterbücher, Textverarbeitungsprogramme, digitale Glossare etc.) und Translation Memories (TM), während eine eher negative Haltung fast ausschließlich der MÜ und KI vorbehalten war. Generell scheint jede Technik mit dem Ziel, „[to] bypass the human understanding of language and its nuances in order to save costs“, also menschliche Interpretation der Sprache und ihrer Feinheiten aus Kostengründen zu umgehen, ebenso reizlos zu sein wie etwaige „attempts to push the boundaries of technology within an essentially contemplative profession which requires an unfashionable degree of isolation and respect for experience“ – wie jeglicher Versuch, die technischen Möglichkeiten in einem wesentlich reflexiven Beruf auszureizen, der eine altmodisch wirkende Abgeschiedenheit sowie Respekt vor Erfahrung erfordert. Interessanterweise gaben 25 % der Teilnehmenden an, beim literarischen Übersetzen auch CAT-Software einzusetzen.

Schließlich ergab die Studie, dass die Technikaffinität bzw. -aversion im direkten Zusammenhang mit Alter und Softwarekenntnis steht. Insbesondere die Unter-25-Jährigen zeigten positivere Einstellungen gegenüber technologischen Anwendungen im Übersetzungsprozess; und wer eine universitäre oder sonstige Schulung für Translationstechnik absolviert hatte, war sowohl gegenüber der Software positiver eingestellt als auch selbstsicherer im Umgang mit ihr. Weitere Erhebungen jüngeren Datums zeigten, dass Literaturübersetzerinnen über geringe Kenntnisse der spezifischen Übersetzungsprogramme verfügen und sich ihrer selten bedienen (Daems 2022). Und wenn sie es doch tun, neigen sie zu einem eigenwilligen Umgang mit der Software, anstatt sie wie von den Entwicklern vorgesehen einzusetzen (Slessor 2020).

 

Literaturübersetzung als Studienobjekt

Der Gedanke, die Verwendung von Übersetzungssoftware für künstlerische Texte zu untersuchen, entwickelt in der Wissenschaft erst seit rund zehn Jahren eine gewisse Zugkraft. Während sich bisher ein Großteil der Forschung auf das Potenzial von MÜ und Post-Editing (PE) konzentrierte (bspw. Genzel et al. 2010; Greene et al. 2010; Voigt und Jurafsky 2012; Jones und Irvine 2013; Toral und Way 2014, 2015a, 2015b, 2018; Besacier und Schwartz 2015; Tezcan et al. 2019; Murchú 2019; Toral et al. 2020), beziehen nun zunehmend mehr Studien die Literaturübersetzerinnen direkt ein und analysieren deren Ansprüche an, Wahrnehmung von und Wechselbeziehungen mit Translationstechnik.

Ein Beispiel dafür ist Moorkens et al. 2018; hier wurden Literaturübersetzerinnen nach bestimmten Aufgaben um Feedback gebeten. Zu diesen Aufgaben zählten das freihändige Übersetzen sowie auch die Nachbearbeitung von MÜ-Output, das sogenannte Post-Editing (PE): Die Teilnehmerinnen gaben Ersterem den Vorzug, gleichwohl Letzteres weniger Zeitaufwand erforderte. In einem anderen Experiment zum PE einer literarischen Übersetzung bemerkten Kenny und Winters (2020), „the translator’s voice is somewhat dampened in his post-editing work“, die Stimme der Übersetzerin werde in ihrer PE-Tätigkeit durchaus gedämpft. Deutlich waren die MÜ-Auswirkungen auch bei Guerberof-Arenas und Toral (2023), welche die Rezeption einer aus dem Englischen ins Katalanische und Niederländische übertragenen Kurzgeschichte verglichen – die Übertragung erfolgte durch reine MÜ, durchs PE eines MÜ-Outputs sowie durch die freihändige Übersetzung. Die Humanübersetzung erzeugte ein höheres Maß an Anteilnahme, Vergnügen und Textverständnis bei den katalanischen Leserinnen, während niederländische Leserinnen den post-editierten Text bevorzugten, sodass die Autorinnen schlussfolgerten, auch der gesellschaftliche Stellenwert der Zielsprache könne für die Akzeptanz bestimmter Übersetzungsarten eine Rolle spielen. Darüber hinaus beschäftigen sich einige Wissenschaftlerinnen inzwischen – anders als die Mehrzahl der Studien zu den zeit- und kostensparenden Effekten von MÜ und PE – mit dem Potenzial alternativer Workflows wie etwa dem Einsatz von korpuslinguistischen Methoden und Textvisualisierungssoftware (Youdale 2019) oder von CAT-Tools und TMs (Horenberg 2019, Youdale und Rothwell 2022).

 

Neue Existenz der Dichtung

Bisher kratzen wir nur an der Oberfläche des translationstechnologischen Potenzials für literarisches Übersetzen. Forschungsdesiderat sind insbesondere das Ausmaß, in dem KI-basierte Instrumente den Prozess des Literaturübersetzens unterstützen können, sowie die Auswirkungen eines Einsatzes dieser Instrumente beispielsweise auf die Arbeitsbedingungen der Übersetzerinnen, die Übersetzungsqualität und die Textrezeption. Darüber hinaus sollten literaturübersetzungsspezifische Faktoren – etwa das Selbstverständnis von Literaturübersetzerinnen und ihre begrenzten Kenntnisse im Umgang mit den verfügbaren Instrumenten sowie über deren individuell anpassbare Einsatzmöglichkeiten – von Wissenschaftlerinnen und Entwicklerinnen stets bedacht werden, wenn es um die Untersuchung bzw. Einführung neuer Technologien auf dem Gebiet des Literaturübersetzens geht. Die Wissenschaftlerinnen sind letztendlich gefordert, die kühnen Behauptungen über die Fähigkeiten der neuen technischen Produkte mit einer ausgewogenen Gegenerzählung zu kühlen und sicherzustellen, dass das Ziel der technologischen Entwicklung „nicht [darin besteht,] entstandene Dichtung zu imitieren, sondern neu entstehende Dichtung zu ermöglichen“ – „not to imitate existing poetry, but to find new ways for poetry to exist“ (Parrish 2015).

Das EU-Förderprojekt DUAL-T, an dem ich als Teil der Arbeitsgruppe Language and Translation Technology (LT3) der Universiteit Gent mitwirke, adressiert einige dieser Fragen und bezieht Literaturübersetzerinnen in die Testung dreier verschiedener Workflows aktiv mit ein, die für das Sprachenpaar Englisch–Niederländisch auf a) ein Textverarbeitungsprogramm, b) eine CAT-Software und c) eine MÜ-PE-Plattform setzen. Zusätzlich zur Anwendungsanalyse dank Eingabe- und Anzeigeprotokollierung werden Fragebögen, Tiefeninterviews und Fokusgruppen vor wie nach den Übersetzungsaufgaben dazu dienen, den jeweiligen Workflow anhand der Wahrnehmung der Teilnehmerinnen zu bewerten.

 

 

Paola Ruffo arbeitet als Wissenschaftlerin auf dem Gebiet der Computer-Aided Literary Translation (CALT), sprich der computerunterstützten Literaturübersetzung. Im Rahmen eines Marie Skłodowska-Curie Postdoctoral Fellowship wirkt sie derzeit am Projekt „Developing User-centred Approaches to Technological Innovation in Literary Translation (DUAL-T)“ an der Universiteit Gent mit; gesucht werden dafür Niederländisch-Übersetzerinnen, die unsere Autorin gern kontaktieren können. Auf X (Twitter) findet man Paola Ruffo als @traduzionemille. Übersetzt wurde ihr Artikel (im Original hier bei uns) von Andreas G. Förster, und zwar in generischem Femininum.

 

Beitragsbild: flashmovie